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Vom Goldfisch und dem Shampoo

„Nicht schon wieder!“, schreit Annelise aus ihrem Zimmer, „Paul, hast du schon wieder mein Shampoo geleert? Ich hab dir gesagt, dass ich das auf die Reise mitnehmen will!“
„Kann sein, aber ist doch auch egal. Geh doch einfach noch eins kaufen, bevor wir losmachen“, antwortet Paul. Die beiden Geschwister sind arg im Stress, wobei Annelise mehr darunter leidet als ihr Bruder Paul. Es ist die erste große Reise der beiden ohne ihre Eltern und das Ziel: die Ostsee. (Für mehr hat das Geld der Geschwister nicht gereicht. Es ist immerhin am Wasser.)
Annelise stürmt aus ihrem Zimmer und blickt ihren Bruder entgeistert an.
„Ich soll noch mal losgehen? Du hast das Shampoo doch aufgebraucht, also kannst du auch ein Neues kaufen!“ „Was kann ich denn dafür, dass du immer nur eine Flasche von deinem Shampoo kaufst? Außerdem hat heute früh dieses neue Festival eröffnet und vor unserer Abreise hab ich mich dort mit Linus und Samuel verabredet.“
„Das ist doch perfekt und auf dem Rückweg kannst du mir mein Shampoo mitbringen. Was spricht denn dagegen?“
So geht das noch 10 weitere Minuten. Aussage gegen Aussage ohne eine wirkliche Lösung.
„Weißt du was? Ich geh einfach mit dir auf das Festival und dann gehen wir zusammen noch letzte Besorgungen erledigen. Gepackt habe ich sowieso schon und ich kann zusätzlich sicherstellen, dass du auch pünktlich nach Hause kommst!“, entgegnet Annelise plötzlich. Paul wirkt von diesem Vorschlag alles andere als begeistert.
„Bevor ihr jedoch das Haus verlasst, esst bitte noch etwas. Ich habe noch Suppe in der Küche stehen.“ Die Mutter der Geschwister hatte das gesamte Gespräch klar mitverfolgen können, da die Geschwister nicht gerade im Flüsterton diskutiert haben. Ohne Widerspruch begeben sich Annelise und Paul in die Küche, lassen sich eine Schüssel Suppe von ihrer Mutter geben und setzen sich mit dieser an den Küchentisch. „Eww was ist das?“ Paul zeigt angewidert in seine Schüssel und findet ein langes, blondes Haar in seiner Suppe. „Das ist doch bloß ein Haar. Iss einfach weiter, meine Güte“, entgegnet seine Schwester entnervt. „Nein, die esse ich jetzt nicht mehr. Wahrscheinlich ist das Haar auch noch von dir und du willst mich damit vergiften oder Ähnliches.“ Paul nimmt seine Schüssel und kippt den gesamten Inhalt in den Abfluss. „Spinnst du? Mama hat sich voll Mühe mit der Suppe gegeben und du Vollidiot schüttest sie einfach weg. Wahrscheinlich fängt es jetzt gleich zu regnen an, weil du nicht aufgegessen hast!“
„Ha, ha, sehr witzig. Beeil dich jetzt aber mal. Sonst verpassen wir noch alles!“ Kaum beendet Paul seinen Satz, hören die beiden Geschwister ein unfassbar lautes Donnern.
„Oh nein. Ey, das kann doch wohl nicht wahr sein. Schau mal aus dem Fenster! Der Himmel besteht ja nur noch aus grauen und schwarzen Wolken. Ich muss den Jungs absagen, Festival im Regen lohnt sich echt nicht“, stellt Paul mit Bedauern fest.
„Und mein Shampoo? Wie soll ich in die Stadt kommen bei so einem Gewitter?“
„Nimm einfach ein Taxi. Komm, ich begleite dich bis zum Taxistand und die Fahrt geht auf mich, liebes Schwesterchen“, suggeriert Paul mit einem leicht sarkastischen Unterton.
Die beiden ziehen sich schnell etwas Regenfestes über ihre Kleidung und begeben sich in schnellem Tempo zum nicht weit entfernten Taxistand.
„Schau mal, da drüben ist eins frei. Moment, irgendwie erinnert mich der Fahrer, aus welchem Grund auch immer, an einen Goldfisch.“ Paul zeigt auf einen etwas kleinwüchsigen, dicken
Mann, dessen Lippen wie die eines Goldfisches geformt waren. Er zog an einer alten Pfeife und es wirkte jedes Mal so, als ob er im Wasser blubbert, wie ein Goldfisch.
„Hihi, der Vergleich ist tatsächlich ziemlich zutreffend. Dann ab zum Goldfisch, bevor der Regen noch schlimmer wird“, lacht seine Schwester.
„Wie kann ick denn dem jungen Paar behilflick sein?“ Der Taxifahrer mit der Goldfischähnlichkeit blickt die Geschwister belustigt an.
„Ihnen auch einen schönen Nachmittag. Wir sind kein Paar, das ist mein Bruder und Sie können uns behilflich sein, indem Sie mich in die Stadt und wieder zurück mitnehmen!“, antwortet Annelise in höflichem Tonfall, obwohl ihr die Art dieses Mannes jetzt schon suspekt war.
„Oho, die junge Dame ist aber ziemlick vorloot. Hamwa denn nen Oosweis dabei?“
„Natürlich und auch den Geldbetrag für die zwei Fahrten. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, würde uns beiden Zeit erspart werden, wenn wir die Formalitäten schnell erledigen könnten.“
Annelise und ebenso Paul ist der belustigte, abgehobene Blick des Fahrers nicht entgangen und das missfällt beiden gleichermaßen.
„Natürlick, wenn es das junge Frooleen jerne so hätte, dann erledige ick meinen Job natürlick janz schnell für sie. Steeg een! Kommt der Bursche mit!“, fragt dieser. „Nein, kommt er nicht.
Einen Moment, es ist BeReal-Zeit. Komm Paul, schnell! So erledigt! Bis dann, Paul. Ich bin pünktlich zur Abreise wieder hier!“
Annelise steigt in das Taxi und winkt Paul noch kurz zu, bis der Taxifahrer plötzlich wieder ihre Aufmerksamkeit erlangt. „Tschuldige, wenn ick so unfeen rüber jekommen bin, aber bin een janz Netter, kannste mir globen. Wo soll ick dick denn jetzt jenoo hinbringen?“
„Oh Moment, … warten Sie! Ist das etwa das Kokos Shampoo von Balea da in ihrer Einkaufstüte?“ „Ja jenoo. Das Wetter war so schlecht, dass meene Frau mich jebeten hat, eenige Flaschen davon zu besorgen. Wieso fragste?“ Der Taxifahrer holt vier Flaschen des besagten Shampoos aus der Einkaufstasche.
„Vier Flaschen, oh wow. Ich frage, weil ich nur wegen genau diesem Shampoo in die Stadt gefahren werden muss. Mein Bruder und ich verreisen nämlich zum ersten Mal allein.“
„Ach na, wenn dat so ist, junge Dame. Hier nimm des und mack dick roos. Da musste ja nicht noch nen Taxi bezahlen!“, erwidert der Taxifahrer.
„Vielen, vielen Dank. Hier nehmen Sie den Zwanziger. Wie heißen Sie?“ Annelise öffnet schon nebenbei die Taxitür, bereit, Paul zu rufen.
„Ick bin der Werner. War mir eene Freude, und Sie junge Dame?“, fragt der Taxifahrer, diesmal mit einem liebenswürdigen Lächeln auf den Lippen. „Ich heiße Annelise und vielen, vielen Dank für das Shampoo und ihre Hilfe. War mir auch eine Freude Sie kennenzulernen, Werner.“
Annelise steigt aus dem Taxi und will gerade Paul hinterher, als das Taxi plötzlich hupt und Werner ein Fenster runterlässt. „Willste net dein Shampoo noch mitnehmen?“, fragt er lachend
und wirft Annelise das Shampoo zu. „Oh stimmt. Vielen Dank“ „Keene Ursache. Na, dann mach ick mir jetzt ooch ma zu meiner Frau oof!“ Damit trennen sich die Wege der beiden und der Reise der beiden Geschwister stand nichts mehr im Weg.

Geschrieben von Leni Meyer, 10/4